Menschenbilder

Die Aufgaben der Wissenschaft bestehen darin, Dinge zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu kontrollieren.

In alten Botanikbüchern findet man Pflanzen detailliert beschrieben und geradezu lie­bevoll gezeichnet (Botanik: vom grch. „botane“, Weide-, Futterpflanze: Pflanzenkunde). Das machte es Botanikern möglich, Zusammen-hänge zu erkennen. So konnten sie bald erklären, warum bsw. welche Pflanzen wo gedeihen. Wer Vergangenes erklären kann, ist irgendwann auch in der Lage, Zukünftiges vorherzusagen. Deshalb konnten Botaniker auch vorhersagen, dass künstliche Monokulturen nur künstlich am Leben erhalten wer­den können. Dinge erklären und vorhersagen sind gute Vorausset­zungen, um sie schließlich zu kon-trollieren. Ginge es also nach unseren Botanikern, so hätten wir wahr­scheinlich keine Probleme mit dem Anbau von Nutzpflanzen. Wir hätten alles unter Kontrolle – anstatt mit Pflanzengiften und Dünger Erträge zu erzwingen und dabei unsere Nahrung ebenso wie unsere Umwelt zu ruinieren. Das ist (oder wäre) sozu­sagen ein „wissenschaftlicher Aktionszyklus“.

Ganz ähnlich, wie ein gewisses Konzept von Pflanzen notwendig ist, wenn man ver­nünftig mit Pflanzen umgehen will, benötigt man ein gewisses Menschenbild, wenn man irgendetwas für Menschen tun möchte. Man braucht zunächst eine Beschrei­bung des Menschen. Doch verschiedene Menschen­bilder sind möglich. Ein Menschen­bild ist nicht von vornherein richtig oder falsch. Es kommt vielmehr dar­auf an, was man damit tun will: was man erklären, vorhersagen und kontrollieren will.

 

Die Sicht des Schneiders

Der Mensch braucht, wie jedes andere Lebewesen auch, eine bestimmte Körpertempera­tur, um zu überleben. Die Umgebungstemperatur liegt gewöhnlich jedoch darunter; und der menschliche Körper hat im Gegensatz zu anderen keine nennenswerte Isolation, die ihn davor schützen könnte auszukühlen. Das ist alles, was wir wissen müssen, um das grundlegende Bedürfnis der Menschen nach Kleidung – abgesehen von sittlichen und ästhetischen Betrachtungen – erklären zu können.

Die Umgebungstemperatur ist jedoch von Jahreszeit zu Jahreszeit unterschiedlich. Allein mit dieser zusätzlichen Information können wir im Sommer vorhersagen, dass die Leute im Winter andere Kleidung brauchen werden.

Wenn wir dann noch verstehen, dass menschliche Körper bestimmte Standard-proportio­nen aufweisen, sind wir in der Lage, Kleidung herzustellen, ohne jeweils an den Leu­ten Maß nehmen zu müssen, die sie tragen sollen. Das erkannte vor einiger Zeit ein Schnei­der, nachdem er die preußische Armee lange genug mit Uniformen beliefert hatte. So war er in der Lage, das Thema Bekleidung zu meistern oder kontrollieren. Er erfand die Kon­fektionskleidung und wurde ein reicher Mann.

Wollten wir die obigen Geschehnisse als Entwicklung einer „Lehre von der Beklei­dung“ sehen, könnten wir ihr ein einfaches Menschenbild als Ausgangspunkt zuord­nen. Es beinhaltete in erster Linie die Gestalt des menschlichen Körpers und einige ihrer Gesetzmäßigkeiten.

 

Die Perspektive des Arztes

Verletzungen und Krankheiten sind Sache des Arztes. Sein Menschenbild muss also um einiges vollständiger sein als das des Schneiders. Anatomie (vom grch. „ana­tome“, Zer­gliederung: die Wissenschaft vom Körperbau) und Physiologie (vom grch. „physis“, Natur + „logos“, Wort; Lehre: die Lehre von den natürlichen Lebensvorgän­gen) sind seine Grundlagen. Davon ausgehend, wird er sich mit spezifischen Organen und Organ­systemen sowie deren möglichen Störungen und Krankheiten befas­sen, um schließlich seine Arbeit machen zu können: Krank-heiten erklären, ihren Verlauf vorher­sagen und sie nach Mög­lichkeit unter Kontrolle bringen. Das Men­schen­bild seiner Lehrbücher ist das eines Körpers. In der Tat erschöpften sich medizinische Bücher bis ins 19. Jahr­hundert weitgehend in der Beschreibung des menschlichen Körpers und seiner Krank­heiten.

Auch viele „psychische Krankheiten“ sind körperlich bedingt. Die Demenz der Alzhei­merschen Krankheit bsw. ist darauf zurückzuführen, dass Nerven der Groß­hirnrinde untergehen. Schlafstörungen, innere Unruhe, Rededrang u. ä. können Symptome einer hyperaktiven Schilddrüse sein. Die Behandlung derartiger Krank-heiten ist ebenfalls Aufgabe des Arztes. (Die Bezeichnung „psy­chische Krankheit“ ist in diesen Fällen natürlich etwas irre­führend. Jede körperli­che Krankheit hat ihre psychischen Aspekte, bei einigen jedoch stehen sie im Vordergrund; und genau das soll damit zum Aus­druck gebracht werden.)

 

Die verloren gegangene Seele des Psychologen

Als die modernen Naturwissenschaften aufkamen, machte man es sich zum Grundsatz, ausschließlich Dinge zu untersuchen, die objektiv, das heißt von verschiedenen Beob­achtern, beobachtbar sind, wie z. B. Steine oder menschliche Körper. Das machte sie erfolgreich. Als sich dann die ersten Psychologen wissen-schaftlich betätigten, versuch­ten sie es ihren Kollegen gleichzutun.

Doch man kann keine Psychologie betreiben, wenn man sich ausschließlich mit objektiv beobacht­baren Dingen beschäftigen will. Denn der gemeinsame Nenner aller psychi­schen Vor­gänge ist irgendeine Art von Bewusstsein; und Bewusst-sein ist nun einmal nicht objek­tiv beob­achtbar. Sie können das Verhalten eines Menschen beobachten und daraus auf sein Bewusstsein schließen; doch das einzige Bewusstsein, das Sie je beob­achten oder erfah­ren können, ist Ihr eigenes.

Also erweiterte man den Bereich der Psychologie um alles, was der bewussten Intro­spektion (vom lat. „introspicere“, hineinschauen: Beobachtung eigener psychi­scher Vorgänge) zugänglich ist: alle Gedanken und Emotionen, derer sich ein Mensch bewusst wird. Die Psychologie wurde damit zu einer Bewusstseins-Psycholo­gie.

Aber schon die ersten Versuche in Sachen Psychotherapie zeigten, dass das Bewusst­sein als Forschungs- und Behandlungsgegenstand der Psychologie völlig unzureichend ist. So bemerkte der Wiener Ner­venarzt Josef Breuer, dass die kritischen Erinnerungen gerade diejenigen sind, die dem Bewusstsein nicht zur Verfügung stehen. Breuer erzählte seinem Freund Sigmund Freud davon. Beide fanden solche Erinnerungen hinter den „hysterischen“ (heute würde man sagen „psychosomatischen“) Symptomen ihrer Kranken (z. B. zeitweilige Sehstörungen oder Taubheitsgefühle) und stellten mit Ver­wunderung fest, dass die Symptome verschwanden, nachdem sie die dazugehörigen Erinnerungen gründlich unter-sucht hatten.

Leider arbeiteten die beiden mit der Hypnose, die sich bald als unzuverlässige Methode her­ausstellte. Sie ließ sich zwar verwenden, um unbewusste Erinner-ungen aufzufin­den und die daraus stammenden Symptome zum Verschwinden zu bringen, doch die Sym­ptome kehrten nach einiger Zeit zurück, da das ganze unterhalb der Bewusstseins­schwelle der Patientin oder des Patienten statt-gefunden hatte. Und da weder Freud noch Breuer ande­re Mittel fanden, um an die unbewussten Erinne­rungen zu gelangen, ver­ließen sie bald diesen viel­versprechenden Weg.

Besonders die Arbeiten von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zeigten, dass das Bewusstsein nur „die Oberfläche eines Meers“ ist, das sie das Unbewusste nannten. Doch wenn schon das Bewusstsein des Menschen nicht aus seinem Körper heraus erklärt werden konnte, so erst recht nicht das Unbewusste. Sowohl Freud wie auch Jung versuchten, die „Seele“ zu heilen. Doch mit der Seele wollte man in den moder­nen Wissenschaften schlicht und einfach nichts mehr zu tun haben.

Amerikanische Forscher „lösten“ das Problem, indem sie sich wieder auf die Position zurückzogen, die man einige Jahrzehnte zuvor in Europa aufgegeben hatte. Man ließ nur noch das als Gegenstand der Psychologie zu, was objektiv beobachtbar ist: das Ver­halten. Begriffe wie „Bewusstsein“ oder „Emotionen“ wurden ausdrücklich ausge­schlossen. Man begründete damit den sogenannten „Behavioris­mus“ (vom engl. „beha­vior“, Verhalten), auch bekannt als Verhal­tenswissenschaft.

Das Neue an der Verhaltenswissenschaft war ihre peinlich genaue Anwendung natur­wissenschaftlicher Methoden. Die Forscher experimentierten mit Mäusen, Ratten, Tau­ben und anderem Getier. Sie entdeckten die Prinzipien, nach denen Reize mit Reaktio­nen verknüpft werden und gewohnheitsmäßiges Verhalten bilden. So stellten sie fest, dass die Tiere dasjenige Verhalten lernen, für das sie belohnt werden, und dasjenige Ver­halten unterlassen, für das sie bestraft werden. Damit wurde es möglich, Seehunde Ball spielen und Bären Fahrrad fahren zu lassen; und viele der neuen Erkenntnisse ließen sich auf den Menschen übertragen. So wurde die Verhaltenstherapie speziell für Angststörungen ent-wickelt. Ihr Prinzip besteht darin, den Patienten Angst auslösenden Reizen auszusetzen, bis er nicht mehr darauf reagiert.

Man sah durchaus, dass das zugrundeliegende Menschenbild unvollständig war. Doch man beharrte darauf, dass die „Black box“ (engl. schwarze Schachtel) - die Seele des Menschen - kein Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein könne.

Die Verhaltenswissenschaft war sicherlich ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Ver­stehen des Menschen – doch eben nur eine Verhaltenswissenschaft. Irgend-wann sah man ein, dass man die „Black box“ auf die Dauer nicht ausklammern kann, auch wenn man nur das Verhalten von Menschen erklären, vorhersagen oder kontrollieren will. So kam es in den 1950-er Jahren zur „kognitiven Wende“ in der Psychologie (kognitiv: vom lat. „cogitare“, denken). Man begann, sich mit dem Denken des Men­schen zu beschäftigen – und war damit wieder bei seinem Bewusstsein angekommen.

Auch die Vertreter der kognitiven Psychologie haben eine Menge an Erkennt­nissen gesammelt. Sie haben den „inneren Dialog“ entdeckt: Zwiegespräche, die die Person ständig mit sich selbst führt und die ihr „Glaubenssystem“ (die Eckdaten ihrer Realität) wider­spiegeln. Daraus haben sie die kognitive Verhal-tenstherapie entwickelt, wo man den Aus­wirkungen nachgeht, die ständige unwillkürliche Gedanken auf das Erleben, Ver­halten und Handeln der Person haben.

Doch man hat nie herausgefunden, woher denn diese unerwünschten Gedanken und die Missemotionen, die oft mit ihnen verbun­den sind, kommen. Man versucht stattdessen, der Person diese Gedanken abzugewöhnen und sie zum „positiven Denken“ zu bewe­gen; und man versucht, sie dazu zu bringen, sich auf diese Missemotionen „einzulassen“ und sie zu „akzeptieren“. Für das, was doch zu hartnäckig oder unangenehm ist, werden gern Antidepressiva verabreicht.

 

Das hypothetische Konstrukt

Wie löst man das Problem? Wie kann man, vom Menschenbild der Psychologie aus­gehend, herausfinden, wer oder was der Mensch ist? Es gibt mehrere Möglich-keiten. Eine davon ist das hypothetische Konstrukt (vom grch. „hypothesis“ Behauptung; zu „hypotithenai“, behaupten + lat. „constructum“, das Zusammen-gebaute): eine Annah­me, deren ganze Existenzberechtigung darin besteht, dass sie es einem erleichtert oder ermöglicht, etwas zu erklären, vorherzusagen oder zu kontrollieren.

Der von mir sehr geschätzte Lutz von Rosenstiel erläutert es in seinem Lehrbuch Grundlagen der Organisationspsychologie: „Soll das Erleben den ... Forschungsmetho­den zugänglich sein, so ist es stets bewusstes Erleben. ‚Unbewusstes Erleben’, das nach Auffassung vieler Laien der interessanteste Forschungsgegenstand der Psychologie überhaupt ist, kann daher kein den Forschungsmethoden zugänglicher Gegen­stand sein, sondern muss als hypotheti-sches Konstrukt verstanden werden, das ... der besseren Erklärung des der Introspektion zugänglichen bewussten Erlebens oder des der Fremd­beobachtung zugänglichen Verhaltens dient. Dafür ein Beispiel: Ein für sein gutes Gedächtnis und seine Pünktlichkeit bekannter Mensch vergisst einen für ihn unangeneh­men Termin und erinnert sich erst dann wieder an ihn, wenn er ohnehin nicht mehr ein­gehalten werden kann. Unbewusste Absichten sind von ihm – definiti­onsgemäß – nicht erlebt worden und konnten von anderen nicht beobachtet werden. Die Annahme des Unbewussten – in diesem Falle einer unbewussten Absicht, den unange­nehmen Termin nicht einzuhalten – erleichtert jedoch die Erklärung des persönlichkeits­fremd wirkenden Verhaltens.“

Mit anderen Worten, wenn man etwas nicht versteht, kann man kreativ werden. Man kann sich überlegen, woraus es bestehen oder wie es funktionieren könnte. Man bastelt sich eine Hypothese; man entwirft ein „hypothetisches Konstrukt“. Wenn es hilft, Dinge zu erklären, behält man es bei. Wenn es Fragen offen lässt, verändert man es; und wenn sich überhaupt nichts damit anfangen lässt, wirft man es in den Papierkorb. Es bleibt jedenfalls nur eine Annahme, solange es nicht so weit beobachtbar, messbar und erlebbar ist, dass man es als Teil der Realität betrachten kann. Ansonsten hätten wir das hypothetische Konstrukt mit Speku­lation verwechselt.

Genau in diesem Sinne verwendete ich in den 1980-er Jahren die „mentale Entität“ als Trägerin des Bewusstseins. Bald wurde aber klar, dass es sich dabei um eine Art Ener­giekörper handeln musste. Es braucht jedenfalls ein Kraftfeld, um Form und Gestalt des physischen Körpers aufrechtzuerhalten, solange er am Leben ist. Also wurde aus der „mentalen Entität“ ein „mentaler Energiekörper“.

Der Begriff der „mentalen Energie“ erwies sich als entscheidende Erwei­terung des hypothetischen Konstrukts. Damit wurden Wechselwirkungen zwischen mentalem Ener­giekörper, physischem Körper und physikalischer Umgebung verständlich. Es wurde möglich, viele Vorgänge zu verstehen, die gewöhnlich als „körperlich“ angesehen werden, ohne eine rechte Erklärung dafür zu haben; und es wurde möglich, viele Phäno­mene zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu kontrollieren, die seit jeher als „seelisch“ gelten – z. B. Wahrnehmung, Erinne­rung, Denken und Emotionen plus deren übliche Störungen - so dass aus dem „mentalen Ener­giekörper“ schließlich wieder eine Seele wurde.

           Verena Franke

Inwieweit es sich dabei nun noch um ein hypothetisches Konstrukt oder einen rehabili­tierten Teil eines vollständigeren Menschenbilds handelt – darüber zu entscheiden sollte in erster Linie der Person überlassen sein, die sich damit beschäftigt. Denn jeder kann ja nur wissen, was er erlebt.

 

Literatur

Bleuler, E. (1983). Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 15. Aufl.

Bower, G. H. & Hilgard, E. R. (1983). Theorien des Lernens I. Stuttgart: Klett-Cotta, 5. Aufl.

Chalmers, A.F. (1989). Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheo­rie. Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokio, Hong Kong: Springer, 2. Aufl.

Franz, M.-L. von (1993). Der Individuationsprozeß. In C.G. Jung, M.-L. von Franz, J.L. Henderson, J. Jacobi & A. Jaffe (Hg.) Der Mensch und seine Symbole. Solothurn und Dusseldorf: Walter, 13. Aufl.

Hussy, W. (1984). Denkpsychologie. Band 1. Stuttgart: Kohlhammer.

Jung, C.G. (1993). Zugang zum Unbewußten. In C.G. Jung, M.-L. von Franz, J.L. Hen­derson, J. Jacobi & A. Jaffe (Hg.) Der Mensch und seine Symbole. Solothurn, Düssel­dorf: Walter, 13. Aufl.

Kluwe, R. H. (1992). Gedächtnis und Wissen. In H. Spada (Hg.) Allgemeine Psycholo­gie. Bern, Göttingen, Toronto und Seattle: Huber, 2. Aufl.

Markus, G. (1989). Sigmund Freud und das Geheimnis der Seele: Die Biographie. München: Langen Müller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung, 2. Aufl.

Rosenstiel, L. von (1992). Grundlagen der Organisationspsychologie. Stuttgart: Schäf­fer-Poeschel, 3. Aufl.

Wessels, M. G. (1994). Kognitive Psychologie. München, Basel: Reinhardt, 3. Aufl.

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