Der Verstand

Der „Verstand“ ist das Substantiv des Verbs „verstehen“. Wenn wir also annehmen, dass sich das ganze Leben um verstehen dreht, wäre es wichtig zu wissen, worum es dabei eigentlich geht.

Der deutsche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) diskutierte einst mit dem englischen Philosophen John Locke (1632-1704) über den „Verstand“. Letzterer glaubte, dass der Mensch nichts mehr sei als das, was er davon wahr­nehmen konnte, ein Körper eben, und dass es deshalb bei der Geburt eines Menschen nichts in seinem Verstand geben könnte - „außer dem Verstand“, so Leibniz. Mit anderen Worten, Leibniz stimmte seinem Kollegen zu, dass der Verstand des Individuums am Beginn sei­nes Lebens eine „Tabula rasa“ (lat. leere Tafel) sei. Er setzte jedoch hinzu, dass die „Ta­fel“ nichtsdestoweniger bereits vorhanden sein müsse, bevor sie „beschrieben“ würde, sprich angeboren sein müsse.

Die heutige Verwendung des Begriffs wurde maßgeblich von Immanuel Kant (1724-1804) geprägt, der den Verstand als das „Vermögen zu denken“ definierte und dem Ver­stand häufig die Vernunft (die Ausrichtung auf Überlebensziele) gegenüberstellte. So definiert der Duden, Deutsches Universalwörterbuch den Verstand als die „Fähig­keit zu ver­stehen, Begriffe zu bilden, Schlüsse zu ziehen, zu urteilen [und] zu denken“. Und da unser heutiges Menschenbild nur aus Gehirn und restlichem Körper besteht, muss diese „Fähigkeit“ natürlich, wie jede andere Fähigkeit auch, einem Organ oder Organ­system zuge­schrieben werden – und das ist gewöhnlich das Gehirn.

Das Gehirn ist natürlich ein großartiges Organ. Es kann den restlichen Körper steuern. Aber es kann kein Bewusstsein her­vorbringen noch mit Bewusstseinsin­halten, sprich Wahr­nehmungen und Erinnerungen, „verstehen, Begriffe bilden, Schlüsse zie­hen“ usw. Dazu ist schlicht und einfach ein zweites System notwen-dig.

Wir kommen in der Tat ohne ein „zweites System“ nicht aus, wenn wir mehr vom Men­schen ver­stehen wollen als die Anatomie und Physiologie seines Körpers und dessen Krankhei­ten. Das mensch­liche wie auch jedes andere Lebewesen ist nun einmal ein dua­les Sys­tem, bestehend aus Körper und – nennen wir es Seele. Es ist ein altes Wort, das jeder versteht; und es ist wahrscheinlich besser zu versuchen, allen religiösen Bal­last loszuwerden, als ein neues Wort dafür zu kreieren.

Der Verstand ist in erster Linie ein seelisches Phänomen. Und da er am Beginn des Le­bens eine „Tabula rasa“ ist, sind kaum Aufzeichnungen aus den ersten beiden Lebens­jahren darin zu finden, und es gibt eine „Kindheitsamnesie“ für diese Zeit. Der Verstand muss erst aufgebaut werden. Doch die einzelnen Aufzeichnungen brauchen viel „Spei­cherplatz“, und wenn die freien Plätze weniger werden, nimmt die Erin­nerungsfähigkeit all­mählich ab. Nichtsdestoweniger ist die „Tafel“ bereits vorhanden, bevor sie „be­schrieben“ wird.

Der Verstand hat einige Hauptaufgaben. Dazu gehören Wahrnehmung, Erinnerung, und Denken. Er erledigt sie mithilfe des sensiblen Nerven-systems. Auf diese Weise sammelt er Wahrnehmungen, wie Sehen und Hören. Körperliche Wahrnehmungen, wie Geruch, Geschmack, Gleichgewicht usw., nennen wir auch Empfindungen. Wahr­nehmungsbilder werden innerhalb eines Augenblicks zu Erinnerungsbildern. Erinne­rung ist die Durchsicht von Erinner-ungsbildern. Denken ist die Bearbeitung von Wahrnehmungen und Erinnerungen, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen.

Ein Problem dabei, den Verstand zu verstehen oder auch nur zu erkennen, besteht darin, dass Wahrnehmungsbilder verhältnismäßig intensiv sind. Wenn wir etwas bei Tageslicht sehen, so ist das „Bild“ – oder der in der Folge entstehende „Film“ – sehr hell. Das Wahrnehmungsbild ist bereits im nächsten Augenblick verblasst. Die Erinnerungsbilder bestimmen das Denken, doch sie treten in der Intensität hinter den Wahrnehmungsbil­dern zurück.

Ein anderes Problem dabei ist die Tatsache, dass jeder Wahrnehmungsvorgang mit ner­vösen Energieströmen in der entgegengesetzten Richtung einhergeht. Bei der Wahrneh­mung oder Empfindung wird Aufmerksamkeit nach außen gerichtet – auf die Umge­bung oder den Körper. Doch dabei fließt bsw. beim Sehen nervöse Energie durch die Augen, die Hülle (Membran) des Sehnervs entlang zu den Sehzentren im Hinterhaupts­lappen des Gehirns. Und man dachte sich, dass die dort ankommenden elektrischen Im­pulse irgendwie zu (in diesem Fall) optischen Bildern zusammengesetzt werden und dann irgendwie von den Augen des Menschen erscheinen. Man fand sogar ein Wort da­für: Konstruktivismus (vom lat. „construere“, zusammensetzen). Doch so kann es natür­lich nicht funktionieren.

So kommt es, dass die Menschen gewöhnlich nicht wissen, dass sie einen Verstand ha­ben, gewöhnlich aber 24 Stunden am Tag – mit Ausnahme einiger Tiefschlafphasen – damit umgehen. Der Verstand ist der „Rechner“, der zum großen Teil selbsttätig mit Wahrnehmungen und Erinnerungen arbeitet, um Situationen zu verstehen und darauf zu reagieren. Wir können ihn benutzen, um zu denken - zu Einschätzungen zu gelangen und Absichten zu entwickeln - und entsprechend zu handeln.

Der Verstand eines Lebewesens ist ein seeli­sches Phänomen. Das Gehirn fungiert als „Interface“: eine zwischengeschaltete Einheit; und sie steht zwischen Kör­per und Ver­stand (der eigentliche „Personal Computer“ des Menschen). So etwa, wenn auch etwas weniger tech­nisch, verwendete Gottfried Wil­helm Leibniz das Wort – einige Zeit vor dem Duden.

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